Der Geniebegriff im Schach ist in unserem Kulturkreis eng mit dem Geniebegriff aus dem Sturm und Drang verwoben. Goethes Figur des Prometheus ist nach diesem Verständnis genial, weil diese aus sich selbst heraus Neues schafft, aber auch der Natur seinen Willen aufzwingt. Ein Genie ist nicht nur in der Lage, Gelerntes zu verstehen, sondern auch durch eigene Ansätze produktiv zu erweitern. Ein Genie, lat. genius = erzeugende Kraft, kann somit Bestehendes auf seinem Gebiet erweitern, es kann aber auch völlig neue Denkgebäude schaffen und bestehende Dogmen auf den Kopf stellen. Beispiele wären Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie oder Thomas Alva Edison mit der Entdeckung der Elektrizität. Beispiele lassen sich viele finden.
Im gewissen Sinne war die Epoche der Romantik im Schach auch so eine Art Geniezeitalter. Man glaubte an die schöpferischen Möglichkeiten, die das Schach dem Spieler bietet und damit an die Möglichkeiten eines Genies, das sich dadurch auszeichne, im Schach durch geniale Einfälle den Weg zum Gewinn der Partie, der durch ein Matt natürlich als am Schönsten gesehen wurde, zielsicher aufzuspüren. Adolf Anderssen hatte viele derartiger Perlen in seiner Karriere geschaffen, er stieß aber an seine Grenzen, als er auf Paul Morphy stieß, der schon, wenn auch unbewußt, sehr systematisch spielte und damit die Verwissenschaftlichung des Schachs durch Steinitz und Tarrasch gewissermaßen antizipierte. Übrigens gab es schon vor Steinitz Spieler mit einem eher positionellen und systematischen, d. h. mit einem regel- und schemagebundenen Zugang zum Schach. Philidor war in der wissenschaftsfreudigen Aufklärung lange vor der technologisch-wissenschaftlichen Revolution breit um die Jahrhundertwende ein Vorreiter von Wilhelm Steinitz, und dieser hat in seinem Versuch, das Schach nach exakten Wissenschaften aufzuschlüsseln, viel von dem großen Franzosen aufgegriffen. Auch Howard Staunton darf als Vorläufer von Wilhelm Steinitz gelten, der allerdings darauf verzichtete, seine Theorien öffentlich zu machen. Der Russe Alexander Petrow hatte den Beinamen: "russischer Philidor". Er hatte das Schach in ähnlicher Form wie Philidor dargeboten, und zwar in seinem das russische Schachleben weit vor Tschigorin ungeheuer beeinflussenden Buch mit dem sperrigen Titel
Das Schachspiel, in systematischer Ordnung dargeboten und mit Partien Philidors sowie Kommentaren zu ihnen ergänzt.
Doch in der heutigen Zeit, in der die Anfangszeit der Moderne von ihren Überspitzungen befreit worden ist, damit auch von dem Glauben, das Schach lasse sich vollständig systematisieren und jeder Zug lasse sich aus wissenschaftlichen Gesetzen ableiten, erhält das Schach seine Faszination durch das universal gültige Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Anders gesagt, für Kreativität und Schöpfertum, die in herausragender Form genial zu nennen sind, bleibt dem Schachspieler immer noch genügend Spielraum angesichts der für einen Menschen unergründlichen Komplexität des Spiels, und in welchem Verhältnis der Spieler sich bei seinen Ideen an die Pole von Wissenschaft und Inspiration hält, ändert nichts an der Tatsache, daß er, der Spieler, die produktive Gestalt auf dem Schachbrett ist. Es ist sein Wille, der den anderen Willen niederringen kann. Dieses Denken ist bei Schachspielern weltweit Gemeingut. Doch ist das wirklich so?
Persönlich erinnere ich mich daran, wie unbefriedigend ich das Schachbuch von Jeremy Silman zur
Überwindung des amateurhaften Denkens gefunden habe. Das lag zu einem Großteil sicherlich an seiner unkonventionellen Art, nicht Meisterpartien, sondern Schülerpartien unter die Lupe zu nehmen, um damit typische Fehler des amateurhaften Denkens aufzuzeigen. Es hatte aber auch damit zu tun, daß mir der Kerngedanke der Ideen Silmans, nicht der Spieler bestimmt die Stellungen, sondern aus der konkreten Stellung leite sich der Plan des Spielers ab, wenig gefiel. Dieser Gedanke mag nun an Steinitz und Tarrasch erinnern, geht aber tiefer und könnte, konsequent weitergedacht, sogar zu einem Umsturz oder tiefgreifenden fundamentalen Antagonismus, an denen die Schachgeschichte so reich ist, führen.
Es ist das Verdienst des Geisteswissenschaftlers Jörg Seidel, in seinem Werk
Metachess, zur Philosophie, Psychologie und Literatur des Schachs diesen Gedanken aufgedeckt, präzise veranschaulicht und weitergeführt zu haben. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hatte schon 1985 ein neues Prinzip in den neuen Sportarten ausgemacht:
Zitat:
In den Sportarten und Gewohnheiten ändern sich die Bewegungen. Lange haben wir mit einer energetischen Konzeption der Bewegung gelebt: Es gibt einen Ansatzpunkt, oder aber man ist die Quelle der Bewegung: laufen, Kugelstoßen etc.; das ist Anstrengung, Widerstand, mit einem Ausgangspunkt, einem Hebel. Heute sieht man jedoch, wie die Bewegung sich immer weniger durch das Einschalten eines Angelpunktes definiert. Alle neuen Sportarten - Surfen, Windsurfen, Drachenfliegen - sind vom Typus: Einfügung in eine Welle, die schon da ist. Hier wird nicht mehr vom Ursprung ausgegangen, sondern von einer Bahn, auf die man gelangt. Wie kann man sich von der Bewegung einer großen Woge annehmen lassen, von einer aufsteigenden Luftströmung, wie kann man "dazwischen gelangen", statt Ursprung einer Anstrengung zu sein, das ist fundamental
zit. nach Jörg Seidel, Metachess, zur Philosophie, Psychologie und Literatur des Schachs, Charlatan-Verlag Rostock 2009, S. 163
Jörg Seidel zitiert aus der Schachliteratur den schon erwähnten Jeremy Silman aus seinem
Amateur Minds, der diesen Wesenszug des Schachspiels bereits in Ansätzen entwickelt hatte. Dieser veränderte Bezugspunkt, vom Spieler weg hin zum Brett wird in dem Zitat durch die Personifikation des Brettes symbolisiert. Silman hatte geschrieben:
Zitat:
A player can´t to anything he wishes to do. For example, if you love to attack, you can´t go to the enemy King in any and all situations. Instead, you have to learn to read the board and obey its dictate. If the board wants you to attack the King, then attack it. If the board wants you to play in a quiet positional vein, then you must follow the advice to the letter
zit. nach ders., S. 164f.
Doch "noch weiter" (ebd.) geht in dieser Frage Jonathan Rowson in seinem 2003 erschienenen Werk
Die sieben Todsünden des Schachspielers. Das Buch dürfte ähnlich provokant sein wie Watsons 1998 erschienenen Geheimnisse der modernen Schachstrategie, in dem dieser ganz nonchalant, aber streng wissenschaftlich untermauert, nahezu jede Richtlinie im Schach über Bord warf. Denn eine der von Rowson ausgemachten Todsünden im Schach ist tatsächlich ... das Denken. Doch unter dem Hintergrund des vorgestellten Paradigmenwechsels kann sich tatsächlich ein tieferer Sinn herausschälen, Seidel:
Zitat:
Das ist ein ungeheuerlicher Gedanke innerhalb des Diskurses über ein Denkspiel [...]. Denken heißt bei Rowson "gegen den Strom denken", heißt "Anstrengung, Widerstand, mit einem Angelpunkt, einem Hebel", heißt vor allem - was Silman nur andeutete - Wille. Der Wille als Ausgangspunkt ist fast immer falsch, man muss vielmehr seinen Willen, sein Denken lassen und sich dem "Willen der Situation" anschließen, sich mit diesem vereinen und ihn zu dem seinen machen, aber eben immer nur so lange, wie die Situation die gleiche ist.
Sollte sich diese Denkweise durchsetzen, werden Bewertung des Schachspiels, Bewertung der Spieler, ja das Schach als solches in seinen Grundsätzen erschüttert. Folgen wir dieser Denkweise, dann wird wirklich offensichtlich, was manche schon geahnt hatten, wie wenig allgemeine Intelligenz und Schachintelligenz dann miteinander gemein haben. Der Geist ist endgültig aus der Flasche, und es "droht" ein neuer Antagonismus in der Schachwelt, was wie schon Watsons Theorie über die Regellosigkeit des Schachs die These von Suetin aus den frühen 80er Jahren widerlegt, im Schach seien die großen Meinungskämpfe unwiderruflich vorbei.
Neuer Antagonismus in der Schachwelt - der Schachspieler als Gleiter mit dem Strom