dimanche 23 novembre 2014

Warum man beim Schach spielen kein Buch lesen sollte

Warum man während des Spiels keine Bücher lesen sollte, beschrieb Milan Vidmar anhand einer Anekdote am Schlußtag des Karlsbader Turniers 1911. Die Partie zwischen Hugo Süchting und Fjodor Dus-Chotimirski lief noch, und der Sieg Dus-Chotimirskis schien nur noch Formsache zu sein. Doch dann kam es anders:



"Im zweiten Karlsbader Turnier gab es eines Tages, schon ziemlich spät gegen den Abend zu, die noch lebende Partie Dus-Chotimirski - Süchting. Der Saal, in dem gekämpft wurde, war schon fast leer. Ich hatte wohl bereits meine Partie beendet, aber mich fesselte das soeben erwähnte Treffen zweier Spieler, wie man sie sich nicht verschiedener ausdenken kann. Der deutsche Meister H. Süchting war ein einfacher Mann: Man sah es ihm sofort an, daß er dem Bauernstand angehört. Es ist gewiß eine Seltenheit, daß ein echter Bauer, der an schweres körperliches Arbeiten gewöhnt ist, es fertig bringt, die zur Meisterschaft hinaufführende Schachleiter recht hoch zu erklimmen. Süchting war ein bescheidener, sympathischer Mann, aber ein grimmiger Turnierkämpfer.

Sein Partner, Dus Chotimirski, war im Sommer 1911 ein junger, talentierter Meister, verträumt, genial, durchaus kein körperlicher Arbeiter. Im St. Petersburger Turnier vom Jahre 1909 gelang es ihm, sowohl E. Lasker als auch A. Rubinstein, d. h. die beiden den ersten und zweiten Platz teilenden Sieger, zu schlagen. Er war ein unheimliches Schachgenie, aber dem praktischen Leben offenbar ganz entrückt. Er hatte an dem Turniertage, dessen Abschluß ich beschreibe, den nüchternen Gegner bereits mit Leichtigkeit überspielt und konnte schon siegen, wie er wollte. Aber er hatte ein Buch auf seinem Turniertisch, vielleicht irgendeinen Roman von Dostojewski, dem er seine ganze Aufmerksamkeit zuwenden begann. Daß Süchting seinen letzten Zug bereits beantwortet hatte, entging ihm offenbar, deshalb lief seine Kontrolluhr unbeaufsichtigt.

Der junge Russe hatte eine Menge ersparter Bedenkzeit. Deshalb lümmelte er auf seinem Schachtisch und las. Seine Partie hatte offenbar schon lange jedes Interesse in seinem den Träumen hingegebenen Gehirn verloren: Er wußte sehr wohl, daß sie vollständig in seiner Gewalt war.

Ich bemerkte die davonlaufende Kontrolluhr des Träumers, sah aber auch Meister Süchting, der mit gestrengem Auge jede mögliche Annäherung an sein Opfer überwachte und unmöglich machte. Es war recht still geworden im Turniersaal, nur das Ticken Dus-Chotimierskis Uhr war vernehmbar. Unheimlich war dieses Belauern des ahnungslos in die Zeitnot versinkenden jungen Russen. Er las und las. Er konnte vorerst ungestraft fast eine volle Stunde seinem Vergnügen und Genießen opfern. Diese Stunde schmolz indessen allmählich auf die Hälfte, nachher auf ihr letztes Viertel, schließlich auf ihre letzten Minuten zusammen. Süchtings das Opfer bewachsendes Auge wurde härter und härter. Ich hielt zuletzt den Atem an. Nun fiel endlich das Kontrollfähnlein der Uhr, die Dus-Chotimirski im Auge behalten sollen, und nun fiel auch Süchting über sein Opfer her.

Noch sehe ich den unglücklichen Jüngling, wie er mit beiden Händen sein Gedicht bedeckt und schluchzt. Er tat auch dem gestrengen Turnierleiter, Stadtrat V. Tietz, leid, der des Verunglückten Hand ergriff. Er führte ihn zu seinem Schreibtisch, der in einer Ecke des Saales stand. Ich hörte von weitem: ´Wenn Sie nicht so ein ... wären ...´ und gleich darauf das Rascheln einer Banknote. Sie war der Trostpreis."



Milan Vidmar, Goldene Schachzeiten, Gruyter&Co, Berlin 1961, S. 132f.

Partie Süchting - Dus-Chotimirsky auf Chessgames:



[Event "Karlsbad"]

[Site "Karlsbad"]

[Date "1911.08.25"]

[EventDate "1911.08.21"]

[Round "4"]

[Result "1-0"]

[White "Hugo Suechting"]

[Black "Fyodor Ivanovich Dus Chotimirsky"]

[ECO "B34"]

[WhiteElo "?"]

[BlackElo "?"]

[PlyCount "119"]

1.e4 c5 2.Nf3 Nc6 3.Nc3 g6 4.d4 cxd4 5.Nxd4 Bg7 6.Be3 d6 7.h3

Bd7 8.Be2 Nf6 9.O-O O-O 10.Qd2 Qc7 11.Rad1 Rfc8 12.f4 Na5

13.Rfe1 Nc4 14.Bxc4 Qxc4 15.Bf2 b5 16.a3 a5 17.e5 dxe5 18.fxe5

Ne8 19.Nf3 Be6 20.Re4 Qc7 21.Nd4 Qb7 22.Nxe6 fxe6 23.Qd7 Qxd7

24.Rxd7 b4 25.axb4 axb4 26.Rxb4 Bxe5 27.Be1 Bd6 28.Rb5 Ra1

29.Kf2 Rc1 30.Ne4 R8xc2+ 31.Kf1 Rc4 32.Nf2 Rd4 33.Ke2 Rc2+

34.Kf1 Nf6 35.Rd8+ Kf7 36.Rb3 Rf4 37.Rf3 Rxf3 38.gxf3 Rxb2

39.Bc3 Rb1+ 40.Ke2 Nd5 41.Ne4 Nxc3+ 42.Nxc3 Rh1 43.Ne4 Bf4

44.Nf2 Rh2 45.Kf1 Bg3 46.Ne4 Bh4 47.Kg1 Rc2 48.Rh8 h5 49.Rb8

Bf6 50.Rb5 Bd4+ 51.Kh1 Be3 52.Rb4 e5 53.Ra4 Ke6 54.Ra6+ Kf5

55.Ng3+ Kf4 56.Nf1 Kxf3 57.Nxe3 Kxe3 58.Rxg6 Kf4 59.Kg1 e4

60.Rg7 1-0



Nachtrag: die Tatsache, daß Hugo Süchting ein Bauer war, motivierte Siegbert Tarrasch zu folgendem Kommentar anläßlich der Partie Walter John vs. Hugo Süchting, Coburg 1904, 0-1:




Zitat:




Der Sieger dieser Partie ist ein Vertreter des Bauernstandes und nimmt seit langen Jahren an den Meisterturnieren des Deutschen Schachbundes mit Ehren teil. Nach seiner geistvollen und pikanten Führung dieser Partie scheint er nicht zu denjenigen Bauern zu gehören, die die größten Kartoffeln haben



Das war als Lob aus berufenstem Mund zu verstehen, denn der praeceptor germaniae hatte die damals gängige Redewendung im Sinn: "Nur die dümmsten Bauern haben die größten Kartoffeln."





Warum man beim Schach spielen kein Buch lesen sollte

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