vendredi 3 octobre 2014

Rauschhafte Vergnügungen und das deutsche Schach





August II., "der Jüngere", Herzog zu Braunschweig-Lüneburg und Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel, war einer der Ersten gewesen, die im deutschsprachigen Raum ein Schachbuch verfaßt haben und damit zur Verbreitung des Königlichen Spiels in deutschen Landen beitrugen. Der hochgelehrte Adelige setzte sein Talent auf vielen geistigen Feldern ein, und da ihn auch das Schachspiel inspirierte, hatte er 1616, d. h. kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg, mit seinem Das Schach- und Königsspiel ein wegweisendes Werk für andere Schachbuchautoren geschaffen. In anderen europäischen Kulturräumen hatte es nach der Erfindung des Buchdruckverfahrens durch Johannes Gutenberg bereits ähnliche Schachwerke gegeben, mit seinem Schach- und Königsspiel trug August II. dazu bei, daß die deutschen Landen diesbezüglich nicht mehr hinterherhinkten.



Vor der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs waren vergleichende Kulturstudien geradezu en vogue. Viele beschäftigten sich vor 1945 damit, die einzelnen Nationen miteinander zu vergleichen und auf Nachteile und Vorzüge der Nationen, aber auch auf die Mentalitäten der Menschen hinzuweisen und nach Gründen dafür zu suchen. In dieser Hinsicht ist es interessant, zu welchem Schluß später Samuel Friedrich Günther Wahl, ein Professor in Bückeburg (Niedersachsen), bezüglich der etwas unterentwickelten Struktur des deutschen Schachlebens gelangte. Samuel Friedrich Günther Wahl, der 1798 in seinem Werk Der Geist und die Geschichte des Schachspiels die historische Entwicklung des Schachlebens von den Wurzeln bis zu Europa nachzeichnet und penibel Bedeutung und Entstehung des Schachlebens in den einzelnen euroäischen Kulturnationen schildert, erklärt sich diese Rückständigkeit des Schachlebens in deutschen Landen auf originelle Art und Weise:




Zitat:




In Deutschland ist das Schachspiel ohngefähr erst um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in größere Aufnahme gekommen. Vorher herrschte noch zu sehr der allgemeine Hang der Nation zu rauschenden Vergnügungen, worunter besonders Tanz, Gesang, Fechten, und Kartenspiele vorherrschten.



In diesem Zusammenhang erscheint interessant, daß der berühmte russische Schriftsteller Nikolai Gogol, der nach Ansicht von Thomas Mann das Groteske in die russische Literatur einführte, ursprünglich ein großer Bewunderer der deutschen Kultur gewesen war, später aber eindeutig Italien präferierte und für die deutsche Kultur nur noch Verachtung empfand, die er mit seinem charakteristischen beißenden Spott ausdrückte:




Zitat:




"Wie garstig kamen mir die Deutschen vor, nachdem ich die Italiener kennengelernt hatte, die Deutschen mit all ihrer kleinlichen Redlichkeit und ihrem Egoismus" (aus einem Brief an M. P. Balabina, Rom, April 1838). Immer wieder beklagte er sich über übelriechende Tabakwolken. An N. M. Smirnow über eine Schifffahrt über den Rhein: "Alle Passagiere drängten sich in einer Kajüte zusammen, so daß man in der Luft 700 Äxte hätte aufhängen können" (Frankfurt, September 1937). Über Italien dagegen heißt es ein Jahr später: "Was für eine Luft! Wenn Du einatmest, dann meinst Du, daß Dir mindestens 700 (!) Engel in die Nasenlöcher fliegen" (an M. P. Balabina, Rom, April 1838). Vor einer weiteren Reise nach Deutschland: "Sie glauben nicht, wie traurig ich bin, daß ich für einen Monat Rom verlassen muß und meinen klaren, reinen Himmel, mein schönes Land, an dem ich mich nicht satt sehen kann. Wieder werde ich dieses gemeine, garstige [...], tabakverräucherte Deutschland sehen ... Aber ich habe vergessen, daß Sie es so lieben, beinahe hätte ich noch einige unanständige Epitheta drangehängt. [...] Meiner Ansicht nach ist Deutschland nichts anderes als ein übelriechender Rülpser schlimmsten Tabaks und ekelhaftesten Bieres. Verzeihen Sie die kleine Anstößigkeit dieses Ausdrucks" (an M. P. Balabina, Rom, Mai 1939). Diese Antipathie zieht sich durch den gesamten Text der "Toten Seelen".



Nikolai Gogol (Übersetzerin: Vera Bischitzky), Tote Seelen, Deutscher Taschenbuch Verlag 2013, Anmerkungen der Übersetzerin, S. 568f.



Doch freilich muß dieses "rauschhafte Vergnügen", sicherlich eine lange erhalten gebliebene Tradition aus den alten germanischen Waldfesten, nicht zwangsläufig als ausschließliches Hemmnis für die Ausbreitung einer deutschen Schachkultur gesehen werden. Zum einen kann Biergenuß den Genuß einer gemütlichen und zwanglosen Partie Schach durchaus erhöhen, zum anderen kann Bier sogar dem schöpferischen Ausleben menschlichen Strebens förderlich sein, wofür in der Literatur exemplarisch E. T. Hoffmann steht. Der Kafka des 19. Jahrhunderts, der es wie Kafka mit dem Begriff hoffmannesk zu einem mit seinem Namen verbundenen einzigartigen Begriff in der Literatur brachte und der ungefähr dasselbe aussagt wie rund 100 Jahre später der Begriff kafkaesk, führte ein Doppelleben. Von Beruf her preußischer Regierungsrat feierte "Gespenster-Hoffmann" in seiner Freizeit rauschhafte Alkoholorgien und fand darin die Inspiration für seine einzigartigen bei Lukubration erschaffenen Geschichten, über die ein Johann W. Goethe zwar die Nase rümpfen konnte, die aber echte Freigeister ungeheuer inspirierend fanden.





Rauschhafte Vergnügungen und das deutsche Schach

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