Zitat:
„Wir litten doch alle gleichermaßen“ Soldaten sollen auf Befehl töten und tun das auch. Von dieser Regel gibt es in der Militärgeschichte kaum Ausnahmen. Die vielleicht bekannteste ist der „Weihnachtsfrieden“ des Ersten Weltkriegs am 24. und 25. Dezember 1914. Die spontane Feuerpause an der belgischen Westfront war von Anfang an ein mythenhafter Vorfall - vielleicht, weil die Wahrheit nicht so ermutigend war, wie es die Legende ist. Die Legendenbildung dauert jedenfalls bis heute an: Im heurigen Weihnachtsgeschäft setzte die britische Handelskette Sainsbury’s auf die kriegerische Anomalie von 1914 als Werbesujet - und sorgte damit für ziemlichen Unfrieden bei der eigenen Kundschaft. Dabei ist das Thema in der Populärkultur bestens eingeführt - von Songs (etwa Paul McCartneys „Pipes of Peace“ und „All Together Now“ von The Farm) über Sach- und Kinderbücher bis hin zu Theaterstücken, Filmen („Merry Christmas“) und sogar einer Oper. Entsprechend tief muss man nach der Wahrheit graben. Niemand steigt einfach so aus dem Schützengraben Die Legendenbildung ist zum einen historisch bedingt: Wer Kriege erforschen will, hat Quellen wie historische Befehle, Protokolle, Aufmarschpläne und Verschlussakten bis zum Abwinken. Beim Gegenteil davon - wenn sich Soldaten über Befehle hinwegsetzen - wird es eng. Es sind im Wesentlichen Tagebucheinträge und ein paar wenige nicht von Vorgesetzten zensurierte Feldbriefe und Feldpostkarten, aus denen sich die Vorgänge in Flandern zu Weihnachten 1914 rekonstruieren lassen. Zum anderen können die damaligen Feinde erst heute relativ unbefangen die Wahrheit zwischen den Fronten ermitteln. Der Weihnachtsfriede war damit wegen unbewältigter Ressentiments von Anfang an ein Thema gefärbter Darstellungen, in denen - je nach nationalem Wunschdenken - entweder Deutsche oder Briten unbewaffnet auf den unberechenbaren Feind zugingen. Später pervertierten die Nazis in einem Propagandamachwerk die Fakten sogar so weit, dass dabei ein friedlicher Deutscher von Briten hingemetzelt wurde. Inzwischen steht zumindest fest: Niemand war so dumm, einfach auf gegnerische Schützengräben zuzumarschieren. Ein „Wunder“, von zwei Seiten gesehen In Wahrheit fand der Weihnachtsfrieden als Serie von Einzelereignissen statt, die jedoch tatsächlich auf der Initiative der Soldaten beruhten: In einem Schützengraben begann es damit, dass Weihnachtsbäumchen vorsichtig an den Rand der Stellung gehievt wurden, in einem anderen mit Kerzen. Wieder an einem anderen Frontabschnitt wurden Säckchen mit Tabak oder andere Geschenke auf „die andere Seite“ geworfen, in manchen Fällen auch Bierfässer gerollt. In vielen Fällen war offenbar das Singen von Weihnachtsliedern der Auslöser. Das „Wunder“ stellt sich aus damaliger Sicht allerdings anders als heute dar. Wer heute zurückblickt, hat das Kriegsgrauen ab 1915 mit unablässigem Trommelfeuer und Gasangriffen vor Augen, und die Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs noch dazu. Den Soldaten von damals waren die Kriege des 19. Jahrhunderts aber näher, als beispielsweise formlose Feuerpausen zum Bergen der Toten noch zum Kriegsalltag gehörten, ebenso wie soldatische Etikette. Dokumentiert ist, dass sowohl Deutsche als auch Briten zum Teil gerade aus diesem Grund nur zähneknirschend die Waffen ruhen ließen. „Herrenmäßigkeit“ ist nichts für den Gefreiten Hitler Der spätere deutsche General Otto Gabcke willigte in seinem Frontabschnitt etwa nur in die Waffenruhe ein, weil die Briten dort mit gutem Beispiel vorangingen und „unsere Kerls durch so viel herrenmäßiges Vertrauen sofort gebunden waren“. Nur wenige sahen diesen militärischen Ehrbegriff damals als nicht bindend an, etwa der österreichische Gefreite Adolf Hitler, der vom Weihnachtsfrieden bei Wijtschate hörte und sich - aus seiner Position als Meldegänger im Hinterland - über die Fraternisierung mit dem Feind empörte. Den Soldaten an der Front war die Einteilung in Feind und Freund inzwischen meist recht egal. Bei Kriegsbeginn im August hatten sie noch geglaubt, „zu Weihnachten wieder daheim“ zu sein. Nun herrschte „auf beiden Seiten eine Stimmung, dass endlich Schluss sein möge. Wir litten doch alle gleichermaßen unter Läusen, Schlamm, Kälte, Ratten und Todesangst“, wie es in einer Erinnerung heißt. Wohl auch deshalb hielt die Ruhe an den meisten Frontabschnitten tatsächlich um die 48 Stunden lang. Verbürgt sind etwa gemeinsame Fußballspiele am Weihnachtstag des Jahres 1914. Schiedsrichter wurden nicht gebraucht. Schönfärberei bis heute Die Soldaten selbst erlebten die Ruhepause aber in keiner Weise so unbeschwert und hoffnungsvoll, wie das - um der „schönen Geschichte willen“ - weiterhin dargestellt wird: Ihnen war klar, dass das Töten bald wieder weitergehen würde. Das wird aber bis heute von Schönfärberei zugedeckt. So wird oft jene Erinnerung eines Deutschen wiedergeben, in dem er die „herzlichen Grüße“ beider Seiten und die „Illumination“ der Schützengräben schildert. Und fast immer wird das Ende des Zitats ausgelassen: „Meine Leute sammelten unterdessen die gefallenen Engländer und Deutschen ein, die schon ganz eingetrocknet waren.“ Aus der Sicht der Militärführung war der Weihnachtsfrieden ohnehin nie etwas anderes als ein schwerer Patzer: Beide Seiten hatten an der Westfront Probleme mit dem Nachschub von Munition und Versorgungsgütern - was eben zum Tausch von Tabak gegen Bier und anderem führte. Außerdem hatte der unbeabsichtigte Stellungskrieg dazu geführt, dass die Feinde in Ruf- und Sichtweite voneinander lagen. Ein Jahr später war das anders: Statt einzelner Schüsse gab es Dauerfeuer, die Gräben waren viel tiefer geworden. Die Soldaten konnten einander nur noch selten hören oder sehen. Und zur Sicherheit wurde 1915 das Singen von Weihnachtsliedern im Schützengraben verboten. Lukas Zimmer, ORF.at |
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Weihnachtsfrieden 1914: Als Soldaten keine Befehle hörten
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