mardi 23 décembre 2014

Widerspruch zur These von Julia Kirst vom Schachspieler als Randfigur des Lebens

Die Schachjournalistin Julia Kirst hat im Schachticker einen Artikel zum Thema der Schachspieler als Randfigur im wahren Leben verfaßt, wozu ich zu den zentralen Thesen, die schon in der sehr klaren Überschrift anklingen, Widerspruch anmelden möchte. Ich möchte das deshalb tun, weil diese Thesen in der Schachszene selbst sehr verbreitet, aber dennoch m. E. falsch sind.



Zunächst heißt es in dem Artikel von Julia Kirst:




Zitat:




Der Schachspieler an sich ist eine Randfigur. Irgendwie ein Außenseiter in einer Gesellschaft, in der die pure Selbstinszenierung (Facebook, Twitter und Instagram lassen grüßen) an der Tagesordnung ist.



Damit kann ich mich durchaus anfreunden, denn das Schachspiel bietet durch seinen Charakter dem Spieler tatsächlich eine Art Vertiefung in archetypische Strukturen, die ein Gegengewicht zu der immer hektischer werdenden Welt bietet, die so hektisch geworden ist, daß Wissenschaftler eine Degenerierung des Menschen befürchten bzw. schon sehen, weil die reizüberflutende Umwelt des modernen Menschen sich zu weit von der evolutionären Grundstruktur des Menschen entfernt habe. Jörg Seidel sprach in diesem Sinne von einer "quasi-religiösen Verzückung", welche das Schachspiel seinen Spielern biete. Der Psychiater Martin Brüne sagt zu dem Thema der Überforderung des Menschen durch seine Lebenswelt auf Focus:




Zitat:




FOCUS Online: Macht uns unser evolutionäres Erbe krank?



Brüne: Das wäre eine zu einfache Sichtweise. Es macht uns auf jeden Fall für gewisse Stressoren anfällig. Wir beobachten weltweit eine Zunahme von depressiven Erkrankungen und Suchterkrankungen. Daran kann man ganz gut erkennen, dass unsere emotionale Ausstattung nicht optimal für unsere derzeitige Umwelt ist. Unsere biologische Evolution hat zumindest teilweise nicht mit unserer kulturellen Evolution Schritt gehalten.



Allerdings läßt sich das Schach auch durch jene von Julia Kirst angesprochenen neuen Medien "inszenieren", so daß der Gegensatz zwischen den archetypischen Strukturen des Schachs und der Informationsüberflutung der Lebenswelt nicht so ohne weiteres als Gegensatz zwischen den neuen Medien und dem Schach aufrechterhalten werden kann. Zur Erinnerung: gerade Schachspieler sind sehr geübt darin, sich der technischen Instrumente, welche die moderne Welt bietet, für ihr Schach zu bedienen.



Wirklich problematisch wird es nun im Folgenden, wo Julia Kirst ein gängiges Klischee über den Schachspieler transportiert. Dort heißt es:




Zitat:




Der Schachspieler hingegen ist von Natur aus eher introvertiert und beschäftigt sich nicht ausschließlich mit solchen Lapalien wie z. B. Selfies. Dafür ist er einfach zu intelligent. Getreu der Springerregel aus den ersten Trainingsstunden sollte man sich nicht am Rand platzieren, sprich: Kein Außenseiter sein. Das ist für den Schachspieler verdammt schwierig, denn sein Naturell kann man nun einmal nicht verändern.



Zwar ist es richtig, daß Schachspieler aufgrund ihres Interesses für ein Spiel, dessen Tiefe für einen Menschen unerreichbar ist, Oberflächlichkeiten bzw. dem schnöden Schein eher skeptisch gegenüberstehen. In puncto Aktion aber, d. h. ein klassisches Interesse extravertierter Menschen, bietet Schach dem nach Abenteuer lüsternen Menschen eine Betätigungsform, welche sich zwar nicht unmittelbar auf das "wahre Leben" bezieht, aber die immerhin im Mikrokosmos einer Schachpartie, auch unter Wettbewerbsbedingungen, wo es also wirklich um etwas geht, ausgelebt werden kann. Der vor etwa 100 Jahren wirkende Schachphilosoph Wilhelm Junk hatte sich in seinem 1918 erschienenen Werk Die Philosophie des Schachspiels bereits Gedanken über diejenigen gemacht, auf die das Spiel einen solchen Reiz ausübt, daß sie es ernsthaft in Vereinen und Wettbewerben betreiben. In diesem Zusammenhang sprach Junk nicht davon, daß das Schachspiel nur auf introvertierte Menschen einen Reiz ausübe, vielmehr ging Junk im Spannungsfeld zwischen Introversion und Extraversion von einem Mittelwert aus. Junk:




Zitat:




Warum aber spielen dann nicht alle (gestressten oder depravierten) Menschen, warum spielt nicht die "gesamte Kulturmenschheit" Schach? Nun, zum einen weil "die hohen Forderungen des Schachs abschreckend" wirken und zum anderen weil die Lockungen des Spiels auf zwei Veranlagungen, auf zwei Temperamentstypen keinen Reiz ausüben: auf die allzu Trägen und die allzu Lebhaften. Fühlt der eine sich durch "das lebendige Bunte und echte Abenteuer" in seiner Ruhe und Gleichförmigkeit bedroht, so sucht der andere das Abenteuer nicht als Substitut, sondern in natura.



Jörg Seidel, Metachess, Sharlatan-Verlag Rostock 2009, S. 63



Trotzdem möchte ich vor dem Gedanken einer Trennlinie zwischen Schach und restlicher Welt warnen. So holzschnittartig und einförmig wie von Junk präsentiert, ist das Schachvolk nicht, und Schach selbst bietet keine vom Himmel gefallenen Strukturen, sondern ist ein Sport- und Kulturprodukt, das sich unter den Bedingungen der Gesellschaft selbst bzw. wie Julia Kirst sagen würde, dem "realen Leben", entwickelt hat, weswegen ich meinen würde, daß das Schach nicht gegen das "reale Leben" gerichtet ist, sondern das "reale Leben" selbst in seiner charakteristischen Form widerspiegelt.





Widerspruch zur These von Julia Kirst vom Schachspieler als Randfigur des Lebens

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